Biografieforschung

Grundsätzliches

Das „Institut für angewandte Biografie- und Familienforschung Kassel (IBF-Kassel)“ ist ein wissenschaftliches Forschungsinstitut und Dienstleister im Bereich der Biografieforschung und des Biografischen Arbeitens. Das Institut wendet dazu sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden und Techniken der Biografischen Arbeit an. Ein Grund dafür sind Veränderungen unserer Gesellschaft und das Bedürfnis vieler Menschen nach Aufarbeitung eigener Lebensverläufe. Welche Methode angewandt wird, hängt vom Einzelfall ab. Die Kosten richten sich nach dem Zeitaufwand und den anfallenden Auslagen.

Zum Thema Biografisches Arbeiten wird an der Volkshochschule Region Kassel der Kurs "Einführung in das Biografische Arbeiten" angeboten. Dieser Kurs richtet sich an alle, die einen Einstieg in das Thema suchen. Neben der Frage nach dem "Warum?" werden verschiedene Vorgehensweisen und Techniken der Biografischen Arbeit vorgestellt. Schauen Sie bitte auf die Seite "Leistungen/Kursangebote".

Nachfolgend eine Übersicht über Begrifflichkeiten, relevante Forschungsansätze und Methoden, sowie die historische Entwicklung der Biografieforschung:

Der Begriff der Biografie

Der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) sagte einmal: „Was der Mensch ist, sagt ihm nur seine Geschichte!“. Dieser Satz ist beachtenswert, steckt in ihm mehr als nur die Aussage, dass die Vergangenheit eines Menschen Geschichte und somit unabänderlich ist. Für Dilthey tritt die Vergangenheit in einen Dialog mit dem Menschen, der sich in einem lebenslangen Prozess der Erinnerung und Erfahrung beständig neu erklärt und definiert. Der tatsächliche Lebensverlauf eines Menschen wird also in dessen Erinnerung rekonstruiert und interpretiert. Für die Biografieforschung ist das von Bedeutung, erscheinen Biografien in der Entwicklung der modernen Gesellschaften immer unverzichtbarer, möchte die Wissenschaft menschliches Erleben und Verhalten erklären. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die persönliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Ereignissen und Lebenslagen abhängig sind. So leben Menschen nach tragischen Ereignissen oftmals in der Vergangenheit. Im Urlaub gilt der gegenwärtige Genuss und die Zukunft steht oftmals in Verbindung mit einer Erwartungshaltungen. Zudem sind bestimmte Lebensstile, die durch individuelle Vorlieben und kulturelle Hintergründe bedingt sind, von Bedeutung. Der Prozess der Selbsterklärung und Selbstdefinierung kann durch eine biografische Arbeit unterstützt und in eine bestimmte Richtungen gelenkt werden.

Biografische Lebensberatung

Ein wichtiges Ziel der biografischen Arbeit ist die Stärkung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, so wie die Fähigkeit ein Leben bewusster gestalten und planen zu können. Die biografische Lebensberatung ist eine Basismethode, auf der weitere biografische Methoden aufbauen können.

Biografische Selbstreflexion

Ein bestimmter Aspekt der Lebensgeschichte wird ins Bewusstsein gerückt um verstanden und bewältigt werden zu können.

Angeleitete Selbstreflexion

Hiermit ist der durch methodische Impulse ausgelöste Zugriff auf das Innenleben des Menschen (Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Glaubenssätze und körperliche Empfindungen). Der Mensch lernt seinen Regungen Ausdruck zu verleihen und diese mit sich selbst und der Umwelt in Beziehung zu setzen.

Biografisches Lernen

Hiermit ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte unter Einschluss fachlichen Wissens gemeint. Dieser Ansatz ist sinnvoll, wenn Menschen aufgrund politischer Strukturen in einen bestimmten Lebensverlauf gedrückt wurden.

Rekonstruktion von Lebensverläufen

In Verbindung mit der Familienforschung, insbesondere der Rekonstruktion von Familiengeschichte, werden auch Lebensverläufe verstorbener Menschen rekonstruiert. Der Biograf ist in solchen Fällen indirekter Beobachter und rekonstruiert mit Datenmaterialien und Erlebnisberichten Dritter.
Im Gegensatz zur Rekonstruktion von Lebensverläufen verstorbener Menschen, kann bei noch lebender Probanten auf eine Vielzahl von Methoden, bzw. Interviewtechniken zurückgegriffen werden. Lebensverläufe sind aber untrennbar mit Lebenskonstruktionen verbunden. Beide haben Einfluss aufeinander. „Wir sind dass, was hinter uns liegt und prägen somit den Weg, der vor uns liegt.“ Natürlich sind Lebenskonstruktionen nicht einfach abfragbar. Sie müssen aus Äußerungen und Äußerlichkeiten erschlossen werden. Die angewandte Methode wird dabei „strukturale Rekonstruktion“ genannt und erhielt ihren Namen von Prof. Dr. Heinz Bude, seit 2000 Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Nach Bude legen die Kommentierungen und Verweisungen des Probanten ein sogenanntes Relationsnetz offen, dass der Logik der verborgenen Lebenskonstruktion entspricht.

Biografischer Ansatz in der Devianzforschung

Mit Devianz ist das abweichende Verhalten von allgemein gültigen Normen und Werten gemeint. Devianz ist somit natürlich und existiert als dualistisches Gegengewicht zur Norm. Ein einmaliges Übertreten der Normen und Werte wird primäre Devianz genannt. Bei der sekundären Devianz wird das Abweichen von der Norm zum vorherrschenden Lebensstil und führt den Akteur in die Rolle des Außenseiters. Die Devianz kann wiederum in eine progressive (positiv voranbringende) und regressive (selbstzerstörende) Devianz unterteilt werden. Progressiv wäre sie z.B. wenn sich die Außenseiter zusammenfinden und einen positiven die Gesellschaft verändernden Prozess initiieren. Regressiv wäre sie, wenn die Gesellschaft oder die deviante Person einem Prozess der Zerstörung ausgesetzt wird. So stellt der Alkoholismus, der Drogenkonsum, die Kriminalität, der moralische Zerfall oder der religiöse Extremismus durchaus eine Gefahr für die Gesellschaft und den Einzelnen dar. Der Biografische Ansatz untersucht die Entwicklung des Lebensverlaufes Einzelner und Gruppen und beschreibt auch die Ursachen der Devianz. Ein wichtiger Vertreter der Devianzforschung war z.B. Prof. Drr. Rudolf Schwendter, der von 1975-2003 an der Universität Gesamthochschule Kassel Professor für „Subkulturforschung“ war.

Narratives Interview

Das narrative Interview ist eine bei Einzelfallstudien genutzte Technik der Datenerhebung. Diese Methode steht dem phänomenologischen und gestalttheoretischen Ansätzen nahe, welche die individuellen, gesellschaftlich mitkonstruierenden Strukturen untersuchen. Sie ist eine klassische Methode der qualitativen Sozialforschung geworden und wurde durch Prof. Dr. Fritz Schütze entwickelt, der 1980-1993 an der Gesamthochschule Kassel als Professor für qualitative Verfahren der empirischen Sozialforschung tätig war. Das narrative Interview wird aufgenommen, verschriftlicht und besteht aus den 5 Phasen: Erklärung, Einleitung mit Einstiegsfrage, Erzählphase, Nachfragephase und Bilanzierung. Die Einstiegsfrage soll eine Stegreiferzählung auslösen, die dann zur Aufstellung von Hypothesen herangezogen wird. Diese Hypothesen sollen dem Interviewten helfen den Lebensverlauf deutend erklären zu können. Die Methode ist somit auch ein geeignetes Mittel der Psychologie.

Leitfadeninterview

Im Gegensatz zum narrativen Interview handelt es sich bei dieser Methode der Datenerhebung nicht um eine Stegreiferzählung, die durch eine erzählauslösende Frage bestimmt wird. Das Leitfadeninterview ist vorstrukturiert, verzichtet aber auf standardisierte Fragen oder Antwortvorgaben. Ebenso sollte der Interviewverlauf flexibel gestaltet werden und nicht den Anschein erwecken, als würden bestimmte Bereiche des Lebens oder Themen abgearbeitet. Ziel dieser Methode soll es sein, anhand eines Grundrichtung Ungereimtheiten aufzudecken oder Perspektiven entwickeln zu können.

Fokussierendes Interview

In dieser Form der Datenerhebung dreht sich das Gespräch um einen bestimmten Untersuchungsgegenstand und die Reaktion des Interviewten auf denselben.

Beobachtung

Neben der direkten Beobachtung, wie z.B. dem Interview, bei welchem der Forscher aktiv an der Herstellung des Datenmaterials beteiligt ist, werden bei der indirekten Beobachtung bereits vorhandene Materialien zur Datenerhebung herangezogen. Dazu gehören Dokumente, Berichte, Biografien, Briefe, Photos, unabsichtlich entstandene Spuren an Gegenständen, etc. Die indirekte Beobachtung ist deshalb ein „non-reaktives Verfahren“.

Historische Entwicklung der Biografieforschung

Die Biografieforschung ist ein Forschungsansatz innerhalb der Qualitativen Sozialforschung und beschäftigt sich mit der Rekonstruktion von Lebensverläufen. Lebensgeschichten und Biografien hat es bereits in der Antike gegeben. Sie dienten der Darstellung einer führenden Persönlichkeit und wurden als politisches Mittel eingesetzt. So z.B. die Lebensbeschreibung Karls des Großen, die von seinem Biografen Einhard angefertigt wurde. Ab der Reformation werden auch Biografien „kleiner Leute“ nachweisbar. In Polen entwickelte sich sogar eine eigene Literaturgattung, die „Gawęda“. Bei ihr kam es darauf an, eine unterhaltsame Geschichte aus dem Leben eines Menschen zu erzählen. Solche „Plaudereien“ wie die „Denkwürdigkeiten des Herrn Soplica“, sind wunderbare Quellen, möchte man die Gefühlswelt einer Person oder einer Gesellschaftsformation erfassen. Und gerade die polnische Soziologie der 20er Jahre brachte einen Florian Znaniecki hervor, der die biografische Methode in die Soziologie einführte. Anhand von Tagebüchern, Briefen, Memoiren, Autobiografien und Verwaltungsdokumenten konnte die Immigration polnischer Bauern in die USA untersucht werden. Der biografische Forschungsansatz wurde zur Grundlage der Arbeit der Chicagoer Schule und des späteren symbolischen Interaktionismus. Nach 1945 rückten quantitative Forschungsmethoden, wie die Statistik in den Fordergrund. Lediglich in der Devianzforschung, also der Untersuchung von Randgruppen, blieb die Biografieforschung vorherrschend. Ab den 80er Jahren wurden aber neue biografische Methoden entwickelt, da sich die sogenannten „Normalbiografien“ auflösten und fortan auch das Anderssein, die Verarbeitung von Brüchen und Problemen im Leben von Menschen untersucht werden mussten. Diese Entwicklung ist heute noch spürbar, gibt die Gesellschaft immer noch einen Rahmen für „normale Lebensverläufe“ vor, der sich an der Realität des Berufslebens bricht. So ist immer noch unverständlich, wieso es bei längerer Lebenserwartung und steigender Leistungsbereitschaft immer noch Altersgrenzen im Berufsleben gibt.

Die Bedeutung von Autobiografien

Immer mehr Menschen schreiben heute Autobiografien und versuchen sich mit ihnen zu erklären und mitzuteilen. Wir erleben beim Lesen solcher Biografien die Nähe zu den Protagonisten, können eigene Erfahrungen spiegeln und somit auch die eigene Vergangenheit verarbeiten. Viele Autobiografien sind Bekenntnisse, Lebensbeichten oder sichtbarer Übergang in einen neuen Lebensabschnitt.
Eine Autobiografie zu schreiben ist nicht einfach und viele Interessenten sind auf hauptberufliche Biografen angewiesen. Natürlich stellt sich hier die Frage, welche Lebensverläufe interessant genug für eine gedruckte Biografie sind. Hinzu kommen hohe Kosten und der Neid unserer Mitmenschen. Lassen wir uns aber nicht beirren. Jeder Lebensverlauf ist etwas Besonderes und viele Menschen haben außergewöhnliche Biografien. Nicht jede Autobiografie muss gedruckt in den Handel gebracht werden. Oftmals reichen ein paar wenige Exemplar für das regionale Archiv und die Familie. Auch haben gerade ältere Menschen das Bedürfnis über ihre eigene Vergangenheit nachzudenken und zu sprechen. Hier ist z.B. eine Altenarbeit gefordert, in der Erinnerung zum zentralen Thema wird. Dies bewies auch die Ausstellung „Von der Altstadt bis ins Wesertor, Wesertor einst und jetzt“. Durch das Stadtteilmanagement „Älter werden im Wesertor“ initiiert, wurde sie zum Renner bei den älteren Mitbürgern Kassels.

Das Institut erstellt für Sie Autobiografien, wobei wir als Ghostwriter tätig werden. Als Autobiografieen im weiteren Sinne, zählen auch Firmen- und Jubiläumsschriften. Über das Biographie-Zentrum kann die Bearbeitung bis zum Druck kleiner Auflagen erfolgen.

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